Gute Mutter, gute Studentin
(K)ein Kinderspiel
„Auf die Plätze – feeertig – los!“ Ein Klatschen hallt durch den Raum. Schon mit einem Fuß halb auf der ersten Stufe stürmt das kleine, blonde Mädchen die Treppe des Hörsaals hinauf. An dem Spiel findet sie offensichtlich Gefallen. „Noch mal, noch mal!“, ruft sie und versucht noch ein Fünkchen schneller zu werden. In der obersten Reihe gönnt sie sich schließlich ein Päuschen. „Hier sitze ich am liebsten“, schallt es lachend von hinten. Charlotte ist sechs Jahre alt, ihre Mama 29 und Studentin.
Seit Dezember 2012 stellt das aufgeschlossene Mädchen mit den strahlend blauen Augen und dem breiten Lächeln Judiths Leben völlig auf den Kopf. Vor vier Jahren entschied sie sich für ein Studium an der Hochschule. Sie selbst stammt aus einer klassischen Arbeiterfamilie. Ihre Mutter hat technische Zeichnerin gelernt, ihr Vater ist Paketzusteller. Dass sie studieren wollte – noch dazu in einer Männerdomäne wie dem Bauingenieurwesen und einem damals dreijährigen Kind – löste bei ihrer Familie einige Zweifel und Skepsis hervor. An ihrer Entscheidung war dennoch nichts zu rütteln. „Ich habe nach meiner Ausbildung zur Bürokauffrau als Sekretärin gearbeitet und mich gefragt: Das soll es jetzt gewesen sein?“ Kinder brauchen Essen, Kleidung, Spielzeug, Bildung. Judith wünschte sich mehr finanzielle Sicherheit und sah ihre Chance im Hochschulstudium.
Spielen, arbeiten, lernen
Ausschlafen ist wohl – neben dem Prokrastinieren – eine der beliebtesten Tätigkeiten im Studium. Judith hingegen zeigt sich begeistert, wenn ihre Seminare zeitig beginnen. Aufstehen um fünf Uhr morgens, schnell ins Bad, duschen, Zähne putzen, ehe Charlotte geweckt und für die Kita fertig gemacht wird. Gegen acht Uhr fährt die angehende Bauingenieurin von Groß Rodensleben zum Campus im Herrenkrug, besucht zwei, drei Seminare, in der Hoffnung, pünktlich Schluss zu haben. „Um 16 Uhr muss ich wieder zu Hause sein“, zählt sie auf, „sonst bekomme ich Probleme mit der Kita.“ An zwei Nachmittagen die Woche arbeitet Judith für die sächsische Firma KAFRIL und verantwortet die Bilanzierung des Rückbaus am Damaschkeplatz. Jeder Tag ist streng getaktet – mit einer Ausnahme: „Freitags ist Familientag – der ist mir heilig!“
Judith hat das Glück, dass ihre Eltern in der Region zu Hause sind. Vor allem durch ihre Mutter Andrea erfährt sie viel Unterstützung. Andernfalls würden sich Belegarbeiten und Studienprojekte neben bunten Stiften und Zeichnungen ihrer Tochter auf dem Schreibtisch türmen. „Was machen nur alleinerziehende Studentinnen, deren Familien Stunden entfernt leben?“, wirft sie kopfschüttelnd ein. Im Studium erleichtern ihr ihre Kommilitonen den Alltag, schicken ihr Mitschriften, wenn Charlotte einmal krank ist, und nehmen Rücksicht bei Gruppenarbeiten. „Ich habe mir häufig gedacht: ‚Wer will schon mit dir zusammenarbeiten‘, aber tatsächlich sind die meisten sehr verständnisvoll“, sagt Judith, die von Anfang an auf Offenheit setzte.
Das gilt auch für ihren Nebenjob: „Wenn man ein gutes Team hat, dann klappt das alles“, sagt sie wie selbstverständlich über ihren Arbeitgeber, der vor allem in Sachen Familienfreundlichkeit punktet. „Ich muss nicht immer auf der Baustelle sein, sondern kann auch mal von zu Hause arbeiten.“ Ab und an kommt Charlotte mit auf die Baustelle und darf – ganz zur Freude ihrer Mutter – bei den Kollegen im Bagger mitfahren. Für die Sechsjährige, die aktuell selbst lieber einmal Reiterin werden möchte, immer wieder ein kleines Abenteuer. „Das Team ist meine zweite Familie, die mir auch in schlechten Zeiten beisteht und Mut macht.“ Ihre Arbeit – sei es in der Theorie an der Hochschule oder in der Praxis auf der Baustelle – bedeutet der jungen Mutter viel.
Der Alltag ist anstrengend – vor allem wenn ihr unflexible Betreuungszeiten Steine in den Weg legen. Trotzdem wirkt Judith zufrieden. „Ich brauche eine Aufgabe und freue mich, wenn ich mich weiterentwickeln kann.“ Kein Wunder also, dass sie sich trotz ihres straffen Zeitplans auch nach den Vorlesungen engagiert. 2018 organisierte sie zusammen mit den Studierenden Meike Wille und Christian Moser sowie Wasserwirtschaft-Studentin Theresa Schiffl die First International Students Conference, die im Oktober an der chinesischen Universität Qingdao stattfand. Die Erfahrung lässt sie heute noch strahlen: „Es war spannend, die chinesische Kultur und die Sicherheitsstandards auf chinesischen Baustellen kennenzulernen, die sich sehr von unseren unterscheiden“, berichtet sie über den Austausch, der ihr Interesse für Studiengänge wie Recycling und Entsorgungsmanagement oder Wasserwirtschaft weckte.
Kind oder Karriere?
Dass Frauen durchaus in der Lage sind, sich beruflich zu verwirklichen und zugleich ihren Kindern eine gute Mutter zu sein, scheint vielen auch heute noch zu weit hergeholt. Eltern der Kinder, die zusammen mit Charlotte in die Kita gehen, verkennen Judiths Ehrgeiz und Enthusiasmus, ihren Willen, in eine finanziell sichere Zukunft zu investieren, als „Rabenmutter“-Dasein. Dass es ihrer Tochter an nichts fehlt, dass sie sogar selbst sagt, wie stolz sie auf ihre Mama ist, akzeptiert kaum jemand von ihnen. Fremde wissen über das eigene Familienleben eben immer am besten Bescheid.
Charlotte müsste unter diesen Vorurteilen in der Kita sehr leiden, ist Judith traurig. Es verwundert daher wenig, dass die Sechsjährige hin und wieder den Hörsaal und die Baustelle dem Gruppenraum des Kindergartens vorzieht. „Ab und an nehme ich sie für zwei Stunden mit in die Vorlesung. Sie bastelt dann meist oder spielt mit ihrem Lerntablet“, erzählt Judith und lacht: „Ich habe den Eindruck, dass sich Charlotte dafür interessiert, was wir im Seminar machen. Ich muss ihr dann immer ihren Rucksack packen mit Hefter und Stiften, damit sie mitschreiben kann.“ Bildung ermöglicht finanzielle Sicherheit. Das weiß auch die ehrgeizige Studentin. Judith hofft, dass sie Charlotte ein gutes Vorbild sein kann, dass sie versteht, dass Lernen wichtig ist, um sich eine sichere Zukunft aufzubauen. „Mir war früher nicht bewusst, warum ich so viel für die Schule machen soll. Charlotte weiß es einmal besser.“
Auf die Frage, ob sie dennoch hin und wieder Zweifel plagen, wird Judith ernst: „Oft“, platzt es aus ihr heraus. Sie schluckt: „Manchmal habe ich vor den Prüfungen im Auto gesessen und mich gefragt, was all dieser Stress soll. Ich könnte jetzt genauso gut im Büro sitzen und in Ruhe meine tägliche Arbeit erledigen“, gibt sie zu. In den vergangenen vier Jahren gab es nicht selten Momente, in denen sie an sich zweifelte und weinte. „Aber ich habe die beste Motivation, die man haben kann und dieser Stress bereitet sehr gut auf das Berufsleben vor“, zeigt sie sich zielsicher. Ganz ohne Hilfe geht es dann aber doch nicht: „In diesen Augenblicken brauche ich Menschen wie meine Freunde Tobias, Cindy und Gabriele, die mich wieder aufbauen.“
Kinderlose Akademikerinnen
Studentinnen mit Kind sind immer wieder eine Lücke im System. Erst vor einem Jahr wurde deshalb das Mutterschutzgesetz reformiert. Judith hält dies für einen richtigen Schritt, sieht aber dennoch vor allem auf finanzieller Ebene hohen Bedarf. „Ich finde, dass Studierende mit Kind noch häufig vergessen werden. Vor allem beim BAföG gibt es kaum eine Angleichung“, erklärt die Studentin, die ihre Lebenshaltungskosten u. a. auch durch einen Bildungskredit bestreitet. „Studieren ist für alle eine finanzielle Hürde und hindert viele daran, sich für ein Studium zu entscheiden. Aber für Studierende mit Kind ist es eine besondere Herausforderung.“
Vor allem dann, wenn Geburtstag, Weihnachten und unvorhergesehene Nachzahlungen aufeinander fallen, wird es schwierig. Frauen mit Hochschulabschluss schieben die Familiengründung daher lange auf. Beides unter einen Hut zu bringen, ist eine Aufgabe, die nicht allein an Frauen abgewälzt werden darf. Es liegt in der Verantwortung der gesamten Gesellschaft, dass Frauen sich nicht zwischen Kind und beruflichem Erfolg entscheiden müssen.
„Ich möchte nicht, dass jemand sagt, ich hätte den Abschluss geschenkt bekommen“, schaut Judith ernst, die danach gern im Tiefbau in der Bauleitung tätig zu sein möchte. Über ihre Leistungen macht sie sich keine Illusionen: „Ich habe mir vorgenommen, dass ich dieses Studium so gut wie möglich bestehen werde. Dafür muss ich keine 1,0-Studentin sein – das ist mit Kind auch einfach nicht möglich.“ Judith ist trotz allem froh, dass es Charlotte gibt. Sie ist ihr Anker und zugleich ihr Antrieb. Dass sie es später einmal besser haben soll – haben wird, hat sie der Selbstlosigkeit ihrer Mutter zu verdanken.
Aufgeschrieben von Katharina Remiorz
Fotos: Matthias Piekacz
KomPass
Für Studierende mit Familien- und Carearbeit haben wir den KomPass etabliert: Einmal meldest du unkompliziert deine Situation an das Immatrikulationsamt und du profitierst von da an von verschiedenen Nachteilsausgleichen und Kompensationsmöglichkeiten, z.B. die Verlängerung der Bearbeitungszeiten, oder die bevorzugte Teilnahme an bestimmten Lehrveranstaltungen um Familie und Studium bestmöglich zu vereinbaren.